lu ftstr om 20
Das dreijährige Projekt „lu ftstr om“ (2017-2020) stellt eine facettenreiche elektronische Kammermusik für vier Blaswandler (EWI, Electronic Wind Instrument) in den Mittelpunkt.
Im Frühling 2020 präsentieren wir fünf weitere Kompositionen für vier Blaswandler in Basel, Luzern und Karlsruhe.
Daniel Weissberg (*1954) Auf ab- und zu hängig (UA)
Michael Beil (*1963) Mimikry (UA)
Orm Finnendahl (*1963) Flock20 (UA)
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Nadir Vassena (*1970) epilogo alla marea (UA)
Maximilian Marcoll (*1981) Canone a 4 (UA)
EW-4 Electronic Wind Instruments
Sebastian Schottke Technik und Klangregie
Daniel Weissberg
Ausgangsmaterial für die Klänge dieses Stücks sind die Stimmen der Spieler und die Geräusche, welche sie, auch mit ihren nicht klingenden Instrumenten, erzeugen. Mit letzteren beeinflussen, verfremden und erweitern sie das Klangmaterial wechselseitig. In verschiedenen Konstellationen ist so nicht nur das Zusammenspiel, sondern bereits das Entstehen der einzelnen Klänge ein interaktiver Vorgang.
Michael Beil
Mimikry basiert als performatives Stück auf einer Reihe von kurzen dokumentarischen Videos über das EWI 5000. Diese 7 Videos sind wiederum das Ergebnis einer Recherche über das EWI 5000 auf Youtube. Sie enthalten kurze Ausschnitte aus hunderten von Youtube-Videos, die sich mit dem Zeigen von EWIs beschäftigen. Es geht dabei in Kategorien um das Unboxing, das Einschalten der Kamera und das damit verbundene Einnehmen einer Spiel-Position, um das Warten auf den Spielbeginn und um das Präsentieren oder Modifizieren des Instruments. Schließlich geht es um Cover-Versionen, die meistens der wesentliche Inhalt der Quell-Videos sind, mit careless whisper als Spitzenreiter. Es geht auch um die Menschen, die privaten Interieurs und auch um die liebenswürdige Unbefangenheit vieler Musiker, während sie sich in ihrem privaten Bereich öffentlich zeigen. Zu erwähnen ist auch die Abwesenheit von Frauen in dieser Szene. Lediglich etwa 5 der über 300 gesichteten Videos wurden von Frauen gemacht. Nur in asiatischen Werbevideos sind Frauen mit dem Instrument zu sehen.
Meistens wird das Spielen auf dem Saxophon imitiert, manche spielen Cello oder Flöte und einer spielt Fagott-Etüden. Dabei geht es immer um das Imitieren, aber auch um die extremen Möglichkeiten des Instruments. Die mitgelieferten Klänge des EWI sind dürftig. Aber die spieltechnischen Möglichkeiten sind einem echten Saxophon überlegen. Neben den Klappen und der Luft gibt es zahlreiche Controller und einen unglaublich großen Tonumfang. Und es gibt MIDI.
Die Performer des Quartetts sind auch Teil der EWI-Community. Auch sie scheinen zu spielen, sie erzeugen aber wie die YouTuber keine eigenen Klänge. Sie spielen mit den Videos, mit dem Sound, mit den Frames, mit den Oberflächen und mit dem Inhalt. So wird das Quartett bei der Aufführung zum Meta-Meta-Quartett, doppelt entfernt vom Saxophon-Klang, um den es ja eigentlich geht. Das macht eine Mimikry-Performance zu einem hyperrealen Ereignis, bei dem etwas nachgeahmt wird, was es nie gegeben hat.
Orm Finnendahl
Flock ist ein work in progress, dessen Fertigstellung auf einen längeren Zeitraum angelegt ist. Das heutige Konzert ist die Präsentation eines ersten Prototyps.
Die Komposition verbindet eine interaktive, für Publikum und Interpreten sichtbare Grafik mit deren klanglichem Resultat.
Grundlage der Grafik ist die Implementierung einer „boids“ genannten Methode zur Simulation des Bewegungsverhaltens von schwarmähnlichen autonomen Objekten untereinander und in Bezug auf Hindernisse, das im Jahre 1986 vom Programmierer Craig Reynolds entwickelt wurde. Bei Flocks steuern die Interpreten mit Ihren Instrumenten in wechselnden Konstellationen die den Bewegungen der Objekte zugrundeliegenden Parameter oder die Hindernisse selbst. Dabei lösen die grafischen Objekte kurze elektronische Klänge aus, deren klanglichen Eigenschaften von ihrer Position, Geschwindigkeit und den Hindernissen, mit denen sie interagieren, abhängen. Durch variable Verdichtungen wird die Wahrnehmung provoziert, in verschiedenen Grössenordnungen zwischen der Beobachtung von Details und statistischen Massenphänomenen zu wechseln.
Kurze Improvisationsstudien zeigen verschiedene Interaktionsformen der Interpreten mit der Grafik. Sie werden ergänzt durch installative, autonome Prozesse.
Nadir Vassena
Eine Unschärfe ist ein Effekt von ungenauen Konturen (Nebelbildung, Aufspaltung eines Bildes), der in der Optik auf eine ungenaue Scharfstellung zurückzuführen ist. In diesem Stück überlagern sich die 4 Instrumentalisten auf präzise, aber unvermeidlich und absichtlich verschwommene Weise zu einem festen und scharfen Klangbild, das in der aufgenommenen Partie eingefroren ist. Ich habe versucht, das EWI so „menschlich“ wie möglich zu nutzen, und die Instrumentalisten als das zu nutzen, was sie sind: Musiker mit einer extremen Sensibilität für Klangereignisse, die in der Lage sind, zu reagieren und die Klangwelt um sie herum schnell zu verändern. Deshalb gibt es auch keine Automatismen, Klickspuren, Trigger oder ähnliches: Maschinen sind besser als der Mensch, wenn es darum geht, Maschinen zu sein. Und es gibt auch kein Video: Musik wird mit den Ohren, nicht mit den Augen gehört. Das ist das, was übrig bleibt.
Maximilian Marcoll
Das Fundament der “Interlocks” ist das Prinzip der Überformung. Es zeichnet sich dadurch aus, dass eine Kette von Prozessen an der Hervorbringung eines Ergebnisses beteiligt ist, dass die einzelnen Stufen der Entwicklung im Endergebnis aber nicht mehr voneinander trennbar sind.
Die Lautproduktion der menschlichen Stimme ist beispielweise ein solcher Vorgang: Ein Luftstrom regt zunächst eine Pulswelle an, deren Frequenz in einem zweiten Schritt beeinflusst wird. Dem nachgelagert ist ein Resonanzprozess, aus dem sich die Individuelle Klangfarbe ergibt. Am Ende stehen komplizierte Filtrierungen, die wir z.B. beim Formen von Phonemen steuern. Trennbar sind diese Instanzen nicht, wir können z.B. niemals die Pulswelle ohne die Resonanzen und Filtrierungen hören.
Im Gegensatz zu einem rein akustischen Ensemble, bei dem die “Arbeitsteilung” darin besteht, dass Parts einzelner Mitglieder am Ende gleichzeitig klingen und klanglich verschmelzen, geht es in dieser Werkreihe um Konstellationen,in denen sich alle Beteiligte gemeinsam in einem mehrstufigen und interdependenten System befinden.
Man stelle sich eine Situation vor, in der mehrere Menschen gemeinsam einen Text verfassen. Eine Person schreibt einen halben Satz, jemand anders verändert zwei Wörter, eine dritte Person schliesst den Gedanken ab und eine vierte Person präzisiert schliesslich die Formulierung durch Vertauschung und Streichungen.
Diese Art der Zusammenarbeit ist angesichts von Tools wie Google-Docs, Dropbox etc längst nichts aussergewöhnliches mehr. Es ist ein Idealmodell des kollektiven Arbeitens, dass es am Ende eben keinen Autor mehr gibt: nicht “jemand” hat sich diese Sätze ausgedacht, sondern sie sind einem kollektiv-generativen Prozess erwachsen.
Was passiert zum Beispiel mit einem Quartett, wenn sich die vier Musiker nicht – wie in Goethes berühmten Zitat – miteinander unterhalten wie vernünftige Leute, wenn sie auch nicht gemeinsam an aus Einzelnoten zusammengesetzten Strukturen arbeiten, sondern wenn das Resultat als Ganzes von allen Musikern gemeinsam und gleichzeitig kontrolliert wird?
Das Ergebnis ist dann nicht mehr ein mehrstimmiger Satz, sondern permanent einstimmig, wie in einem gesellschaftlichen Bottom-Up-Prozess in dem viele Instanzen dazu beitragen schliesslich eine einzige Position zu formulieren.
Allerdings bildet diese Monodie auf neue Weise die Komplexität der Interaktion der Musiker ab. Es wäre dies eine Versuchsanordnung, eine Übertragung eines Denkmodells für kollektive Organismen oder Gesellschaften, ein Modellversuch für eine tatsächlich kollektive Arbeit „am Ton”.
Interlock 4 ist ein monodischer Kanon. Das mag zunächst paradox erscheinen, ist ein Kanon doch eine polyphone Form. Mit “monodisch” ist hier gemeint, dass es zwar vier Spieler gibt, dass das Ergebnis jedoch einstimmig ist, da alle vier mit ihren Aktionen die Frequenz desselben Tons verändern.
Der gesamte musikalische Text findet in einem Rahmenintervall von zwei Oktaven statt, was aber für jeden Performer ein anderes Resultat hat: die zwei Oktaven in denen der Text notiert ist werden im klanglichen Resultat auf vier verschieden große Bereiche zwischen einer kleinen Sexte und etwas über zwei Oktaven gestaucht bzw. gedehnt, was in der Summe in etwa den Ambitus eines Klaviers ergibt.
Das Stück ist als Kanon organisiert, sodass derselbe Notentext zwar zu unterschiedlichen Zeiten von allen Spielerneinmal ausgeführt wird, aber jeweils andere Auswirkungen hat. Der Hauptfokus lag hier im Hervorbringen extremer Überlagerungen zum Teil gegenläufiger Bewegungen in unterschiedlichen Tempi, was die Gleichzeitigkeit mehrerer “Stimmen” auch im monodischen Resultat wieder wahrnehmbar werden lässt.
Uraufführung: 12.03.2020, Neubad, Luzern (CH)
Für Konzertanfragen schreiben Sie uns bitte ein Mail an saschaa@ew-4.art
lu ftstr om 20
The three year project „lu ftstr om“ (2017-2020) is about a colorfoul electronic chambermusic, played with four windcontrollers.
In spring 2020 we will present again three new compositions in Basel, Lucerne and Karlsruhe.
Daniel Weissberg (*1954) Auf ab- und zu hängig (UA)
Michael Beil (*1963) Mimikry (UA)
Orm Finnendahl (*1963) Flock20 (UA)
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Nadir Vassena (*1970) epilogo alla marea (UA)
Maximilian Marcoll (*1981) Canone a 4 (UA)
EW-4 Electronic Wind Instruments
Sebastian Schottke technical execution and sound engineering
Daniel Weissberg Interactive patterns will be the core of the composition. Every player can manipulate musical actions of the other players. The composed annotations and networks create the character of the piece. The muscial result will mostly controlled by the players themself.
Michael Beil will be using the data of the windcontrollers in order to trigger a video. The music will be a pre produced tape with the four controllers. Another option is a silent movie which is composed instantly with the four controllers.
Orm Finnendahl will tie up his new composition to his works that are composed with the “open source” concept, which is including the performers from the beginning in Process of composing. Interactive graphics which the players can manipulate are the basics of the concept.
Nadir Vassena wants to drift away from the historic saxophone sound and have the players act as guardians of new sounds and gestures. The audience will be led to the border of the invisible and inaudible, along a horizon as a border and link to the threshold of unconsciousness.
Maximilian Marcoll will have three musicians manipulating the midi data of the forth player. The result can be one voice, played and controlled by four musicians simultaneously.
world premiere:12.03.2020, Neubad, Luzern (CH)
For concert requests please contact us at saschaa@ew-4.art
YOUTUBE
Zu diesem Konzert können sie folgende Youtube Videos anschauen:
Nadir Vassena – Epilogo alla marea
Michael Beil – Mimikry
Daniel Weissberg – Auf ab- und zu hängig
Maximilian Marcoll – Canone Monodico a 4 (Interlock 4)
YOUTUBE
watch this project on Youtube:
Nadir Vassena – Epilogo alla marea
Michael Beil – Mimikry
Daniel Weissberg – Auf ab- und zu hängig
Maximilian Marcoll – Canone Monodico a 4 (Interlock 4)